„Häimat“ oder „Gelsenkirchen ist nicht weit.“

Zugegeben: was haben wir uns hier im Pott früher oft beömmelt über die – auf uns Kinder alt wirkenden Menschen, die immer von ihrer „Hääimat“ sprachen, die sie verlassen mussten. Meine Mutter stammte auch aus Ostpreußen, jammerte zwar nicht, sprach aber in ihrem „bräiten“ Dialekt auch oft über ihr kleines Bauerndorf Augstupönen bei Gumbinnen, über die Flucht, Pferde und die schwere Landarbeit. Und dass es dort bei aller Ärmlichkeit schön war. Heimat. Wurzeln.

Belächelt wurden sie damals, und oft auch als Polacken bezeichnet, die in ihrer „Häimat“ „Hiehnerr, Änten, Jänse und Schwäine und jroße Landgieter“ besessen haben wollen. Und man hatte Wetten darauf abschliessen wollen, dass sie bestimmt, trotz allen Jammerns, niemals wieder freiwillig dorthin gehen würden, wo sie hergekommen sind, weil sie es hier in Westdeutschland doch „so gut“ hatten.
Willkommen waren sie hier nicht. Das spürten auch wir Kinder. Lange her.

Und je grauer meine Haare werden, um so grüner werden auch mir die Erinnerungen an meine Kindheit in Gelsenkirchen-Erle, wo ich geboren wurde und bis zu meinem 26. Lebensjahr lebte. Und mit den Erinnerungen wächst auch der Wunsch, einfach einmal wieder hinzufahren, durch die Straßen und die Hinterhöfe meiner Kindheit zu gehen, an alten Häusern Klingelschilder nach Namen von damals abzusuchen, Gerüche und Geräusche, die mir einmal vertraut waren, und die es nur hier gab, wiederzufinden, vielleicht alten Weggefährten von damals zu begegnen, in der Hoffnung, deren Gesichter vielleicht, trotz der vielen Jahre dazwischen, noch wiederzuerkennen, um sich gemeinsam erinnern zu können.

Diese kleine Sehnsucht nach einer Zeit, in der wir noch alles vor uns hatten und in der die Zukunft endlos schien. Wissen wollen, ob es die alte verräucherte Stammkneipe auf der Wilhelmstraße noch gibt, in der uns der Wirt einen Bierkrug mit unseren eingravierten Namen bereithielt, eine Ehre, die nur seinen Stammgästen zuteilwurde, und die uns das Gefühl gab, dort zu Hause zu sein, Was aus dem alten Kino an der Cranger Straße geworden ist, und ob meine alte Schule an der Oststraße noch steht – und das Haus, in dem damals das Mädchen aus meiner Klasse wohnte, für das ich mit knapp vierzehn ganz doll verknallt schwärmte…

Ich habe das große Glück, jederzeit an meinen Kindheitsort fahren zu können, weil Gelsenkirchen gerade mal knapp dreißig Kilometer von hier entfernt ist. Und hin und wieder mache ich das auch – ganz spontan – und hole mir etwas von Damals ins Heute.

Nach Schlesien, Masuren oder Ostpreußen zu fahren, ist heute zwar möglich, doch die meisten derer, die dort einst alles zurücklassen mussten, leben vermutlich nicht mehr oder sind heute zu betagt für eine solche Reise in ihre Vergangenheit.
Und es tut mir heute leid, mich damals über sie „beömmelt“ zu haben, die den Schmerz über den Verlust ihrer Heimat im Herzen und auf der Zunge hatten, weil ich heute ihre Sehnsucht nach ihren Orten und der Zeit, in der sie das Leben – ein ganz anders gedachtes – eigentlich noch vor sich hatten, besser verstehen kann.

Und ich weiß, wie gut ich es doch habe. Gelsenkirchen ist nicht weit.
Die Erinnerung, so sagt man, malt mit goldenem Pinsel.

Zum Hören: Von dicken Duppas.

Also: bissi Tage!


*beömmeln = sich über etwas amüsieren, lachen.
aus >>> Ruhrgebietssprache.de

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10 Antworten zu „Häimat“ oder „Gelsenkirchen ist nicht weit.“

  1. iGing sagt:

    Wunderbar, dass du neben dem Ruhrpott-Dialekt auch das Ostpreußische pflegst!
    Bitte sprich noch mehr auf Ostpreußisch, das erinnert so an Familientreffen in den 60ern, zu denen wir von weither aus dem Süden anreisten … und an den Herrn Boybox hier im Dorf [wie der sich wirklich buchstabierte, weiß ich nicht, aber er sprach so, dass nur meine Mutter ihn verstand].

  2. quersatzein sagt:

    Du kannst mit der Stimme zaubern, lieber Lo. Das ist höchst beeindruckend!
    Danke für Schrift und Klang.
    Und lieben Gruss,
    Brigitte

  3. Ach Lo, diese eingefärbte Sprache ist mir so sehr vertraut. Meine Altvorderen , Oma, Tante, Cousinen haben zwar nicht in Ostpreußen gelebt, aber lange Jahre noch in Oberschlesien. Und da waren die eingestreuten polnischen Wolrte so ähnlich.
    Aujßerdem hatten wir in unserer Zweizimmerwohnung, wo wir schon zu dritt wohnten, eine Mutter mit ihrer halbwüchsigen Tochter als Einquartierung bekommen – die kam aus Ostpreußen.
    Lang, lang ist’s her. Jetzt habe ich allein mehr Platz als wir damals zu fünft.
    Lieben Gruß

    • Lo sagt:

      Ja, liebe Clara: wir leben heut im Vergleich zu damals schon sehr komfortabel. Ich lebte bis zu meinem 12. Lebensjahr mit acht Personen in einer 2-Zimmerwohnung unterm Dach, Wasserhahn und Toilette im Hausflur. Wir leben schon in sehr, sehr guten Zeiten. Manchmal muss man sich das nur vor Augen halten.
      Liebe Grüße!

  4. Hoffende sagt:

    Ganz selten hör‘ ich mir mal was an, was nicht Musik ist. Aber das hier, das hat mich bereichert. Man hätte es so auch nicht schreiben können. Danke für’s Erzählen und natürlich den ganzen Beitrag. Ich habe auch eine besondere Beziehung zur Heimat und viele Namen von den Klingelschildern finde ich inzwischen auf dem örtlichen Friedhof.

  5. Meine Oma, die aus dem Riesengebirge stammte, hatte immer Heimweh. Immer. Ebenso mein Vater, der sich allerdings weigerte, seine alte Heimat wieder zu besuchen, als die Möglichkeit dazu bestand. Er wollte alles genau so in Erinnerung behalten, wie es mal war.

  6. luzieke sagt:

    Wir haben 15 Jahre *auf Schalke* gewohnt , jetzt wohnen da die Ratten , gleich neben den Kinderspielplatz.

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