Wie ich einmal in die BILD kam und dafür büßen musste.

Es ist Mittwoch, der 17. Oktober 1973 in Essen-Kray.
Ein richtig schöner, stiller Herbsttag, die Sonne scheint durch das Fenster meines Büros, von dem aus ich direkt auf die Kaserneneinfahrt mit dem kleinen, schwarz-rot-gelb gestreifte hölzerne Wachhäuschen neben dem heruntergelassenen Schlagbaum blicken kann. Ich bin Mitarbeiter des größten Zirkus Deutschlands, auch Bundeswehr genannt.
Still ist es, weil beinahe das gesamte Bataillon für eine mehrtägige Fernmelde-Übung ins Irgendwo ausgerückt ist und die Kaserne wie ausgestorben daliegt.
Ich habe das Glück, meine Dienstzeit im Stabsbüro des Kasernenoffiziers zu verbringen, was mir die Teilnahme an der ungemütlichen Übung da draußen erspart. Und während die Truppe das kommende Wochenende in der Wildnis zubringen muss, freue ich mich schon auf Samstag, weil ich mit lieben Freunden verabredet bin, die ich schon sehr lange nicht mehr gesehen habe. Das wird richtig toll.

Telefon! Es ist mein Kasernenoffizier, wir haben den gleichen Humor und Unsinn im Kopf: „Lothar, guck mal aus dem Fenster, da ist so ein BILD-Reporter an der Wache. Der will ein Interview mit Heinz Blasey machen, der Fußballspieler, der bei uns ´ne Wehrübung macht. Geh doch mal hin, und sag dem Zeitungsfritzen, dass er das Kasernengelände nicht betreten darf. Aber, wenn er will, kann er das draußen vor dem Tor machen. Der Heinz Blasey sitzt drüben im Wachgebäude, den kannst Du ja mit vors Tor nehmen.“
Weil ich absolut fußballdumm bin, weiß ich nicht, wer Heinz Blasey ist. Scheint wohl berühmt zu sein. Mein Kasernenoffizier klärt mich auf: Heinz Blasey ist Bundesliga-Torwart bei Rot-Weiß Essen und hat gestern noch an der Hafenstraße gegen Eintracht Frankfurt* gespielt. Aha.

Ich schließe mein Büro ab, gehe rüber ins Wachgebäude und finde Heinz Blasey beim Plausch mit anderen Kameraden. Er weiß schon Bescheid, wir gehen die wenigen Schritte zum Kasernentor, wo der Zeitungsmensch mit einer Fotokamera in Hand wartet.
Der Reporter wechselt mit unserem prominenten Wehrübenden ein paar Worte über das gestrige Spiel und hat die Idee, ein Foto zu machen, auf dem es so aussieht, als ob Heinz Blasey am Kasernentor Wache schiebt und mich beim Passieren der Kaserne kontrolliert.
Die Szene ist schnell arrangiert, das Foto im Kasten.
Ich frage den Reporter, wann das wohl erscheint. „Müsste morgen drin sein.“ Dann verabschieden wir uns.
Heinz Blasey und ich gehen wieder in die Kaserne zurück und unterhalten uns noch eine Weile. Er macht bei uns bis zum Monatsende eine Wehrübung, wird aber für Training und Spiele selbstverständlich immer freigestellt. Sympathischer Kerl!

Man kommt ja nicht alle Tage in die Zeitung, also berichte ich jedem, der sich nicht wehren kann, stolz davon und bin schon ganz doll gespannt.
Der Donnerstag ist da. Schon sehr früh am Morgen kaufe ich mir am Gelsenkirchener Hauptbahnhof eine Bildzeitung, entdecke das Foto, freue mich und fahre nach Essen-Kray in die Kaserne. Einige Jungs dort haben den Artikel auch schon gelesen und feixen. Ich habe Spaß – und genieße fröhliche Aufmerksamkeit.
Aber nur bis zum Mittag…

Telefon. „Lange? Sie sollen sofort zum Kommandeur!“
Wie? Ich denke, der ist doch irgendwo zur Übung weit weg. „Jawoll! Ich komme.“
Der Kommandeur ist kurzfristig aus der Übung in die Kaserne gekommen und sitzt nur wenige Türen weiter in seinem Büro. Weil wir uns fast täglich begegnen und diesntlich miteinander zu tun haben, ahne ich nichts Böses. Vermutlich hat er auch schon den Artikel gelesen.

Ich klopfe an seine Tür, darf eintreten:
„Melde mich wie befohlen, Herr Oberstleutnant!“
Der Kommandeur sitzt an seinem Schreibtisch, seine Miene ist ernst.
Er lässt mich weiter stillstehen – ohne sein von mir erwartetes „Stehen Sie bequem!“ bleibe ich in dieser Haltung und spüre irgendwie, dass die Situation wohl nicht angenehm zu werden scheint.
Vor ihm liegt die aufgeschlagene Bildzeitung mit dem Artikel. Stille… Dann blickt auf.
„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, Herr Unteroffizier? Was sehen Sie hier?“
Er kommt mit der Zeitung auf mich zu und zeigt auf das Foto, auf dem ich mit Heinz Blasey vor dem Kasernentor abgebildet bin. Ich weiß nicht zu antworten.
„Sagen Sie: was sehen Sie hier?“ Ich bin unsicher.
„Ach, Sie wissen es nicht? Gut, dann sag ICH es Ihnen: ich sehe hier einen Soldaten meines Bataillons, der auf diesem Foto das Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit in hohem Maße beschädigt! Und dieser Soldat ist NICHT der Wehrübende auf dem Bild, sondern SIE, Herr Unteroffizier! Schauen Sie genau hin! Ihre Frisur ist doch wohl alles andere vorschriftsmäßig! Sollte es Ihnen möglicherweise entgangen sein, dass die Ohren nicht bedeckt sein dürfen und das Haar ist so zu tragen ist, dass Uniform und Hemdkragen nicht berührt werden? Vermutlich nicht! SIE werden nun ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, Ihre Kennnisse über das Auftreten eines Soldaten in der Öffentlichkeit aufzufrischen. Sie besorgen sich die entsprechende Dienstvorschrift und treten ab morgen nach Dienstschluss übers Wochenende zum Wachdienst an. Am Montag melden Sie sich bei Ihrem Kompaniechef – mit vorschriftsmäßigem Haarschnitt!“
„Jawoll, Herr Oberstleutnant!“
„Wegtreten!“
Das saß!!!
Ich melde mich ab, drehe mich auf der Stelle um und verlasse geknickt das Kommandeurszimmer.
Dieser Anschiss sitzt mir tief in den Knochen. Ich fühle mich elend.
Das Wochenende, auf das ich mich so freue…
Scheiße! Scheiße! Scheiße!
Scheiß Bundeswehr! Scheiß Bild-Zeitung!


*) Bundesliga, 1973/1974, 11. Spieltag
Dienstag, 16. Oktober 1973, 20:00 Uhr,
Georg-Melches-Stadion, Essen,
Besucher: 21.000
Schiedsrichter/in: Volker Roth (Salzgitter)
Rot-Weiss Essen : Eintracht Frankfurt
Ergebnis: 6:3

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6 Antworten zu Wie ich einmal in die BILD kam und dafür büßen musste.

  1. Eine frühe Lektion in Medienkompetenz 😅😅😅

  2. iGing sagt:

    Und der andere, der Torwart, hat der keinen Verweis bekommen? Ich sehe da zwei Personen mit ohrenbedeckender Haartracht … nennt sich sowas beim Militär Gleichbehandlung?

    • Lo sagt:

      Nö, liebe iGing: weil Reservisten ja nur für einen sehr kurzen Zeitraum ihre Wehrübung machen, wäre es unzumutbar, ihn zum Haareschneiden zu zwingen, denn als Zivilperson kann ja jeder seine Haare tragen, wie er will.

  3. Iggy sagt:

    Du bis dann wohl der linke. Sieh’s gut aus, Lo! Aber tuße ja immer noch. 😉

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