Angst vor dem Bullemann. Kindheit im Pott

„Wenn Du jetzt nicht sofort lieb bist, sag ich dem Bullemann Bescheid! Wirst schon sehen, was der mit Dir macht: der nimmt Dich mit! Willst Du das?
Pssst!!! Sei mal leise! Da hat doch was geknackt! Warte mal, ich glaub, der schleicht gerade die Dachbodenleiter hoch, der Bullemann! Der hat bestimmt gehört, dass Du nicht lieb warst, und wartet da oben auf Dich!“

Jau, ich hab das Knacken auch gehört. Mein Herz klopft. Das kann nur der Bullemann sein, denn hier im Dachgeschoss wohnt neben uns nur noch Omma Urbanski, und Omma Urbanski ist alt, die schafft gerade mal mit Mühe die Treppe runter zum Klo auf halber Treppe, das wir mit ihr teilen. Die steilen Stufen zum Dachboden hoch, das kann sie nicht mehr, und was soll sie da auch? Da oben steht nur olles Gerümpel, da ist es muffig und dreckig und voll mit dicken fetten Spinnweben.
Aber von dort oben knackt es immer wieder mal. Das kann nur der Bullemann sein. Und vor dem habe ich Schiss. Richtig Schiss…

Unsere kleine Dachwohnung in Gelsenkirchen-Erle liegt in einer dunklen Ecke links hinter der Dachbodenleiter. Wenn ich von draußen zu uns in die Wohnung hochkomme, habe ich immer Bammel, dass der Bullemann dort hinter der Ecke auf mich lauert. Tagsüber geht es, aber wenn es abends schummerig ist…
Das trübe Flurlicht reicht nicht ganz bis um die Ecke herum. Und so eine elektrische Haustürklingel, wie die in den Neubausiedlungen, haben wir nicht. Schade. Denn dann könnte ich unten klingeln, und meine Mutti würde oben auf mich warten. Ist aber nicht, also stampfe ich, wenn ich die Treppenstufen hochgehe, etwas lauter auf und rufe hoch, dass ich jetzt komme. Sicher ist sicher.

Schlimmer, viel schlimmer ist es aber im schwarzen Kohlenkeller: da gibt es nur eine kleine Lampe, gleich am Anfang, wenn man die Kellerteppe runterkommt. Dahinter bleibt alles dunkel. Direkt vor Kopf kann man durch die Ritzen der Heizungskellertüre sehen, wie es im großen Koksofen, der das Friseurgeschäft und die Wohnung unseres Hauseigentümers wärmt, rötlich flackert. Und es bullert darin. Hier unten wohnt der Bullemann, sagt Mutti.
Das ist doof, denn wir haben bei uns oben unterm Dach nur einen Kohleherd, und für mich ist es das Schlimmste, wenn ich zum Kohlenholen ganz alleine in den Keller runter muss. Mit Kohleneimer und Taschenlampe. Dorthin, wo der Bullemann auf mich wartet.

Immer wieder bettele ich, Mutti soll doch bitte, bitte mitkommen, doch das macht sie selten. Wenn ich Glück habe, sind meine Freunde, die im Haus wohnen, hinten auf dem Hof. Denen kann ich dann sagen, dass ich im Keller bin, damit sie sich oben an der Kellertüre hinstellen. Mit herunterzukommen trauen sie sich nicht.
Sie wissen schließlich auch, dass der Bullemann da unten lauert.

Also: erst die Taschenlampe an, dann die Kellertüre auf, Licht anknipsen, mit rasendem Herzkloppen nach unten an dem glühenden Bullerofen vorbei in den unbeleuchteten Gang nach links zu unserem Keller. Das Aufschließen des Vorhängeschlosses ist meist schwierig, weil ich ganz rappelig vor lauter Angst den kleinen Schlüssel nie schnell genug ins Schloss bekomme.
Rein in unseren Keller, gegen die Angst anpfeifen, Kohlen in den Eimer schaufeln. War da nicht etwas? Hat da was geraschelt? Boah! Jetzt aber so schnell wie möglich hier wieder raus, nach oben: geschafft!!!

Wie der Bullemann wohl aussieht? Ich glaube, dass der richtig groß ist und einen ganz dunklen Umhang trägt, zottelige Haare und einen langen Bart hat und richtig böse guckt. Und dass der Kinder mitnimmt, wie die Großen immer sagen. Erst recht wenn man nicht lieb oder still ist.

Einmal dachte ich, dass ich ihn gesehen habe: oben, direkt an der Ecke vor der Dachbodenleiter, als ich – im Dunklen, abends! – ganz allein zu Hause war und eine Treppe tiefer aufs Klo musste. Ich öffnete die Wohnungstüre, wollte gerade in den Hausflur gehen, als eine riesig-große dunkle Gestalt – an der Dachbodenleiter angelehnt – dastand – und sich nicht bewegte. Vor Schreck sprang ich in die Wohnung zurück und schloss ganz schnell die Türe hinter mir zu, rannte ins Schlafzimmer, versteckte mich unterm Bett meiner Mutter – hielt mir vor lauter Angst ganz feste die Ohren zu und blieb dort mucksmäuschenstill liegen, in der Hoffnung, dass der Bullemann jetzt bloß nicht durch die Türe kommt und mich holt. Eine lange Ewigkeit lag ich dort angespannt vor Angst, immer feste meine Ohren zuhaltend.
Plötzlich Schritte von nebenan, ich hörte ganz dumpf, wie die Schlafzimmertüre aufging. Jetzt kommt er! Lieber Gott, wo bleibt Mutti? Ich mach mir gleich in die Buxe!
„Jungchen, was machst Du denn da unterm Bett? Komm mal da hervor!“
Muttis Stimme! Ich erkannte von hier unterm Bett, dass es ihre Schuhe waren, kroch aus meinem Versteck hervor und erzählte ihr aufgeregt, dass ich im Hausflur den Bullemann gesehen habe.
„Zeig mal, wo hast Du den gesehen?“
„Da im Flur, ganz groß stand der da!“
„Komm, sollen wir mal gucken, was da war?“
„Neee!!!“
Meine Mutter nahm mich an die Hand, öffnete die Wohnungstüre und – da stand er noch immer – und bewegte sich nicht! Der Bullemann!
Ohne Schiss ging meine Mutter auf ihn zu und sagte zu mir:
„So. Jetzt guck mal genau hin! Das ist kein Bullemann, Jungchen, das ist eine Teppichrolle, das ist der neue Teppich von Omma Urbanski. Den bekommt sie morgen verlegt. Komm mal her, den kannst Du ruhig auch anfassen. Der frisst Dich nicht.“
Tatsächlich: da lehnte eine große dunkle Teppichrolle an der Dachbodenleiter.
Jetzt sah ich es auch, aber so richtig weg war meine Angst trotzdem noch lange nicht.
„Mutti, ich muss runter aufs Klo, bleibst Du hier oben stehen, und wartest?“

* * * * *

Lothar Lange, Kindheitserinnerung


Den Bullemann, diese Kinderschreckfigur haben sicher die allermeisten Erwachsenen im Ruhrgebiet aus ihrer Kindheit noch mit Grausen in Erinnerung.

„Eltern, Großeltern, Ammen oder andere Kinder erzählten Kindern vor allem in früheren Jahrhunderten von solchen Gestalten. Klassisch ist das Motiv des „Kinder-Mitnehmens“, bei dem den Kindern damit gedroht wurde, dass die Schreckfigur kommen und sie „holen“ würde, wenn sie nicht brav wären. Ebenfalls wurde oft mit Figuren gedroht, die Kinder „auffressen“. Aus Wikipedia: Kinderschreckfigur

Bullemann und Co
Die schönsten Gruselgeschichten aus dem Ruhrgebiet
Verlag Henselowsky u. Boschmann
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 120 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3922750443
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3922750444

Psychologen schicken den, der Aufzüge fürchtet, nach Bochum in die Ruhr-Universität; den, der die Höhe fürchtet, nach oben auf den »Florian« im Westfalenpark; den, der die Enge fürchtet, in die »Arena auf Schalke«. Wie kann das Ruhrgebiet geheilt werden, dem vor sich selbst gruselt? Es kann nur eine Antwort geben: durch Gruselgeschichten! Gruselgeschichten aus dem Ruhrgebiet! Denn sie ermöglichen einen tiefen Seelenblick, mit dem wir endlich einmal befreit über uns selbst schmunzeln können. Sie haften an unserem Erdfleck, enthalten Züge derber rheinischer Komik und den Hang zur westfälischen Spökenkiekerei. Sie lassen uns Ruhrkolorit spüren, und aus ihnen können wir das dringend benötigte regionale Selbstbewusstsein schöpfen. Sie ermuntern uns schließlich zu Widerstand gegen Bullemann und Co., indem deren Tricks und Schliche schonungslos offen gelegt werden.


Das ist mir wichtig: wenn ich hier hin und wieder ein Buch beschreibe, das mir gefällt, so geschieht dieses stes ohne wirtschaftliches Interesse meinerseits, frei jeglicher Beeinflussung meiner Meinung und grundsätzlich ohne Gegenleistung, ausser vielleicht, dass die Freude der Autoren/ der Autorin/nen darüber mein ach´ so altes Herz erfreut.
Dat isso! 🙂
Lothar Lange

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12 Antworten zu Angst vor dem Bullemann. Kindheit im Pott

  1. Hier im Dorf, in dem ich jetzt lebe, kam in Schätzelchens Kindheit der Metche aus dem Graben.
    Da hier überall Moor ist, konnte es (und kann es immer noch) gefährlich sein in einen Graben zu klettern / reinzurutschen. Auch jetzt noch hört man immer mal wieder, dass ausgebrochenes Vieh stecken bleibt. Oder eine Joggerin, die ihren Hund rausziehen wollte usw.
    Da kam so ein Metche ganz passend, um den Kindern richtig Angst vor den tiefen Zuggräben zu machen.

    Ich hatte als Kind auch furchtbare Angst im Kohlenkeller. Der Bullemann kam da nicht, aber tatsächlich haben meine Eltern mich vor Männern gewarnt, die sich kleine Mädchen greifen und ermorden ( „Es geschah am hellichten Tag“, mit Gerd Fröbe hat mir dann den Rest gegeben).

  2. Meine ehrliche Meinung? Ich würde solche Erwachsene, die Kindern so einen Sch… erzählen, zweimal täglich backpfeifen und am liebsten einmal in eine Situation bringen, wo sie richtig richtig Angst haben. Vielleicht verkneifen sie sich dann diese Angstmache und Drohungen. – Eben so schlimm: „Warte nur, bis der Papa nach Hause kommen, dann …“

    • Lo sagt:

      Ja, diese Angstmacherei mit irgendwelchen bösen Gestalten war in den früheren Jahren wohl allgemein üblich. Die Drohung mit dem Papa ist auch gemein. Für Kind und Papa.

  3. Quer sagt:

    Du lieber Himmel. Solche Angstmachergeschichten grenzen für mich an Kindesmisshandlung – und waren doch früher als Erziehungsmassnahme die Regel.
    Die Geschichte ist wunderbar erzählt! Hut ab!
    Einen lieben Gruss,
    Brigitte

    • Lo sagt:

      Dankeschön fürs Lob, Dein Gespensterbeitrag hat mich gestern zum Aufschreiben meiner Erinnerung an den Kinderschreck inspiriert. Du hast mich sozusagen „begeistert“.👻

  4. iGing sagt:

    Bei mir war es der Butzemann, vor dem ich mich fürchtete … er lauerte hinter der verglasten Tür zum Treppenhaus, deren Scheiben, da das Treppenhaus nur bei Bedarf beleuchtet wurde, abends kohlrabenschwarz waren. Da musste man die Wohnzimmertür leise hinter sich zumachen, ganz schnell an der Tür mit den schwarzen Scheiben vorbeirennen, gleich danach den Lauf bremsen, um dann harmlos, als wäre nichts gewesen, die Küchentür öffnen zu können. Denn es sollte doch von dieser Angst keiner etwas merken!

  5. bernhard1965 sagt:

    Also sollte ich mal eine schwarze Katze im Kohlenkeller fotografieren 🙂

    LG Bernhard

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