Radio & Kinderfunk. Die 50er. Das erste Radio.

Radio & Kinderfunk. Die 50er. Das erste Radio.

Den ganzen Morgen bin ich in der Schule nicht so richtig bei der Sache,
denn gestern abend sprach meine Mutter in ihrem ostpreussischen Dialekt:

„Jungchen, ich hab mir was ieberlegt. Ich werde morjen mal bei Heitjohann fragen jehen nach einem Radio.“ Heitjohann ist das Radiogeschäft in Gelsenkirchen-Erle auf der Cranger Straße, gleich neben dem Postamt. Und ein Radio besitzen wir nicht. Noch nicht.

Wir bekommen ein eigenes Radio!
Das Neueste aus dem Rundfunk erzählt uns immer die alte Frau Urban von nebenan. Sie hat so einen kleinen schwarzen Kasten auf einer Kommode neben dem Lichtschalter stehen. Mit einem gehäkelten Deckchen darunter.
Bei „Tante Urban“ darf ich auch sonntags um zwei Uhr immer den Kinderfunk vom NWDR hören. Das ist zwar schön und spannend und ich freue mich auch immer drauf. Aber bei Tante Urban riecht es immer nach „alter Omma“. Und bei ihr ist alles irgendwie fromm und ordentlich, dass ich mich nur traue, mucksmäuschenstill und stocksteif auf dem Stuhl vor ihrem Radio zu sitzen, um mir die neuesten Abenteuer von „Pingo, Pongo und dem starken Heinrich“ anzuzuhören. Und wenn der Kinderfunk vorbei ist, sag ich immer brav: „Danke, Tante Urban.“ Klar, gehört sich so.

Endlich ist die Schule aus. Ich muss immerzu an das neue Radio denken und wünsche mir ganz feste, dass es schon da ist, wenn ich gleich nach Hause komme. Ich renne die Treppenstufen zu unserer kleinen Dachgeschosswohnung hoch und höre schon im Hausflur leise Musikgeräusche aus unserer Küche kommen. Ich öffne die Wohnungstüre und sehe es schon:

Unser neues Radio! Links neben der Türe zum Schlafzimmer steht es auf einem kleinen Tischchen. Und es „spielt“.

Kinderfunk Kohlenspott

Es ist nicht so groß wie das von Onkel Otto und Tante Martha vom Hedwigplatz, die schon länger einen Radioapparat, sogar mit Schallplattenspieler, haben.
„Nu jeh mir da bloß nich dran, du Lorbaß. Nur gucken!“ Ich betrachte das neue Radio von allen Seiten. Es riecht. Nach neu. Nach Radio. Obendrauf ist es warm. Es hat unten links und rechts jeweils einen runden Drehknopf aus elfenbeinfarbigem Horn mit einem Goldrand drum. In der Mitte, zwischen den Knöpfen eine Reihe mit Tasten, die man runterdrücken muss: Aus-TA-MW-UKW-LW.
Der linke Drehknopf ist zweigeteilt: der kleinere vordere Ring ist zum laut– und leiser stellen und der etwas größere Ring dahinter zum Toneinstellen: dumpf oder klar..

„Nu verstell mir da nüscht! Hast Du nicht welche Schularbäiten auf?“
Für die blöden Hausaufgaben habe ich jetzt keine Zeit: „Nö. Nur wenig, mache ich später, darf ich dat mal ausprobieren? Ich mach schon nix kaputt.“
Meine Mutter verbietet mir selten etwas so richtig.

Mit dem rechten Knopf stellt man also die Sender ein. Aha. Das ist spannend, denn über den Knöpfen und Tasten gibt es eine schwarze Glasscheibe, auf der neben- und untereinander Städte- und Sendernamen in Goldschrift zu lesen sind: BAYR.RFK – Vatikan –Bremen – Budapest – NWDR – Kalundborg – Beromünster – England – RIAS…. Neben jedem Namen hat das schwarze Glas dann einen kleinen hellen Streifen, der von hinten beleuchtet ist.
Dreht man an dem rechten Knopf, bewegt sich ein Zeiger hinter dem Glas und zeigt auf den eingestellten Sender. Das ist aber nicht das eigentlich Spannende, sondern das grüne „magische Auge“ ganz links in der Glasscheibe! Das ist die Wucht. Verstellt man den Sender, verändert sich das grün beleuchtete Auge. Der Sender ist erst dann richtig eingestellt, wenn das Auge an allen Seiten richtig hellgrün ist und die Lichter in der Mitte des Auges nicht übereinander liegen. Das muss im Dunklen ganz toll aussehen….
Die Töne kommen aus der Stoffbespannung darüber. Dahinter ist nämlich der Lautsprecher.

In einem braunen Papier-Umschlag, der am löchrigen hinteren Deckel klebt, finde ich die Beschreibung für unser neues Radio und einen aufklappbaren Plan mit Zeichnungen, die ich nicht verstehe. Dazu ein Papier von „Radio Heitjohann“, auf dem ich lesen kann, dass meine Mutter das Radio für 330 Mark gekauft hat. 50 Mark hat sie angezahlt. Der Rest ist in Monatsraten pünktlich und bar…

Wir haben ein eigenes Radio! Das muss ich meinen Freunden Hermann und Bernd erzählen. Die werden Augen machen, denn jetzt können wir bei uns zu Hause auch mittwochabends den englischen Schallplattenjockei Chris Howland hören, der immer so lustig spricht: „Hallo meinar Freundar! Booooing! Sitzen Sie bäquäm. Hier ist ähr alte Freund Heinrich Pumpernickel!“ Und dann spielt er die neueste englische Musik, von der ich aber kein Wort verstehe. Aber Hermann und Bernd sagen, das wäre ganz neumodern.

Vielleicht darf ich dann endlich auch einmal eins dieser Kriminalhörspiele mit Kommissar Paul Temple hören, von denen alle immer sagen, wie spannend die sind…

Ich werde Mutti schon rumkriegen…


Das Radio wird 100.

Persönliche Kindheitserinnerungen an die Zeit um 1959 in Gelsenkirchen, die Zeit der Pettycoats und des Wirtschaftswunders mit den für damals typischen Erstmaligkeits-Erlebnissen, wie das erste Radio, den ersten Fernseh-„Apparat“… Lothar Lange
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5 Antworten zu Radio & Kinderfunk. Die 50er. Das erste Radio.

  1. quersatzein sagt:

    Einfach herrlich! Und wie detailliert du dich an damals erinnerst, macht mich sprachlos.
    Ja, klar, als Kind war unser einziges Unterhaltungsgerät auch ein Radio – das jeweils am frühen Abend ein Kinderprogramm sendete: Ich liebte es heiss.
    Und was mir an deiner Beschriebung natürlich sofort ins Auge stach, ist der Sender Beromünster. Hier ganz in der Nähe steht er noch, der alte Funkmast!!!
    Danke für den schönen Post und HAPPY BIRTHDAY Radio!
    Gruss,
    Brigitte

  2. LP sagt:

    Ein toller, nostalgischen Beitrag, der viele Erinnerungen wachruft. Das große Radio im Wohnzimmer, Omas uraltes Radio in Vaters Werkstatt, das Kofferradio in der Küche. So war das bei uns einige Jahre später.

  3. Und wennste „Beromünster“ reinkrisst, aber „BeroCenter“ nicht, hasste nicht den XL gekauft.

  4. dieterkayser sagt:

    Meine ersten geliebten Radiosendungen waren „Der fröhliche Wecker“ mit Heinz Schenk, die wöchentliche Krimi-Sendung zum Mitraten „Wer war’s, wie geschah’s und was war los? Das Wort hat Kriminalrat Obermoos“ und dann natürlich die „Hitparade“ mit Hanns Ferres. In Köln habe ich selber mal im Funkhaus am Wallrafplatz bei einer Kinderfunksendung mitgemacht, mit Georg Bossert, dem Entdecker von Desirée Nosbusch und Anke Engelke.

  5. Ich weiß fast nichts mehr aus dieser Zeit – aber irgendwann hatten wir in Görlitz auch so einen Kasten – als einzigen Westsender habe ich bei Radio Luxemburg über LW die Hitparade reinbekommen und gehört. – Alles andere weiß ich nicht mehr so detailliert wie du.

Schreib mir! :-)