FREIBAD GRIMBERG. UNVERGESSEN.
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Meine Freunde Klaus und Wolfgang hatten es gut.
Ihre Eltern besaßen ein Auto. Einen Borgward Isabella.
Damit fuhren sie in den großen Sommerferien immer nach Bayern.
Wir hatten kein Auto. Auch keine Verwandten, die irgendwo wohnten, wo es schöner als in Gelsenkirchen-Erle war und wo es nicht nach Zeche roch, bei denen ich die Sommerferien hätte verbringen können. Außer bei Tante Martha und Onkel Ernst in Aschersleben. Aber das war ja „drüben“. In der Ostzone.
Die, die nicht verreisen konnten, und das waren ja die allermeisten von uns, waren schon ein wenig neidisch auf die, die spätestens am ersten Schultag nach den Ferien von ihren Erlebnissen in den Bergen oder am Meer erzählen konnten.
Am dollsten beeindruckte mich damals nach den großen Ferien das Wiedersehen mit meinem Freund Kalle vom Erler Tiemannsweg: Kalle war klein, schmächtig, immer blass und hatte eine spitze Hühnerbrust. Die ganzen Ferien über war Kalle „verschütt“ gewesen. Und dann stand der Knirps plötzlich knackig braun und äußerst wohlgenährt mit richtig dicken Hamsterbacken vor mir und fragte: „Na, wat sachsse? Ich war sechs Wochen anne Nordsee auf Norderney! Dat is ´ne Insel.“
Man hatte Kalle zum Aufpäppeln von der Fürsorge zur Kur geschickt. So einen richtigen Urlaub hätte sich Kalles vielköpfige Familie gar nicht leisten können. Und ich staunte: „Kerl inne Kiste, Kalle, wat bisse dick geworden!“ Stand ihm aber richtig gut. Kalle erzählte uns von Strand, Wellen, und was es auf Norderney alles zu futtern gab, und ich malte mir in meiner Phantasie aus, wie es wohl so am Meer sein könnte, denn gesehen hatte ich es noch nie. Wie am Berger See bei Schloss Berge in Buer vielleicht? Eben nur viel größer?
Wir Knirpse aus Erle und Umgebung verschafften uns in den großen Ferien auch ohne ferne Urlaubsreisen Abkühlung.
So befand sich an der Ecke Frankamp- und Seitenstraße ein kleines Lebensmittelgeschäft, das regelmäßig von einem LKW mit Stangen-Eis beliefert wurde. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die dann die Nachricht, dass der Eis-Kerl wieder da war – und alles rannte hin. Das Eis lag in langen eckigen Stangen unter einer Plane gestapelt hinten auf der nassen Ladefläche, von der es pausenlos tropfte. Der Fahrer pickte mit einer langen eisernen Greifzange immer eine der großen glitzernden Eis-Stangen auf, lud sie sich auf seine mit einem Lederschutz bestückte Schulter und schleppte so seine kühle Fracht in den Laden. Meist hatten wir das Glück, dass auch schon einmal ein abgebrochenes Stück Eis für uns dabei abfiel, das wir dann mit Genuss kleinlutschten, bis uns die Zähne weh taten.
In der italienischen Eisdiele Gamba auf der Cranger Straße waren wir Stammkunden. Ein Hörnchen mit einem Ballen Eis kostete 10 Pfennige. Irgendwann gab es dort für uns Knirpse was ganz spannendes: „Inne Gamba gibt et Malaga-Eis! – Mit Rum-Rosinen drin!“ Das war der Geheimtipp, weil wir glaubten, Erwachsenen-Eis mit richtigem Schnaps zu schlecken.
Und wenn es so richtig heiß war und wir nicht zum Freibad Grimberg konnten, wurde uns als Freibadersatz einfach eine Zinkwanne auf den Hinterhof gestellt. Die Eltern von Klaus und Wolfgang hatten sogar einen richtigen Kühlschrank: da gab es dann eiskalte Limo. Oder wir lieferten uns erfrischende Wasserpistolenschlachten.
Doch den allergrößten Teil der Sommerferien verbrachten Gelsenkirchener Kinder im Freibad Grimberg, denn dat war einfach dat Größte…
FREIBAD GRIMBERG
Der mühsame Fußweg von Erle zum Freibad Grimberg führte über die Cranger Straße zum Erler Forsthaus. Von hier aus immer an den Gleisen der Graf-Bismarck-Zechenbahn entlang und später noch ein Stück durch Getreidefelder. Links der Felder kam man an einer Barackensiedlung für Obdachlose vorbei, die wir „Mau-Mau“ nannten.
Hier hatten wir immer Schiss, denn Geschichten darüber, dass die Mau-Mau-Bewohner gern die hier Vorbeigehenden überfielen, verkloppten und beklauten, nährten unsere Furcht und so rannten wir auf diesem Stück, bis wir dann endlich unbeschadet und vor Bammel und Hitze nassgeschwitzt endlich die rettende Emscherbrücke erreichten.
Ab hier vermischte sich dann der Emschergestank mit dem Duft von Chlor und Sonnencreme: Geschafft! Gleich sind wir da: GRIMBERG – wir kommen!
Vor dem Freibad-Eingang befand sich links eine Trinkhalle, die immer dicht umlagert war, daneben rechts ein großes Eisentor, über dem ein weißgrundiges Schild mit der blauen Aufschrift FREIBAD GRIMBERG hing.
Gleich rechts daneben das Gebäude mit seinen kleinen Schalterfensterchen, vor denen immer lange Schlangen von Menschen in der Sommerhitze anstanden. Wenn wir dann endlich unser 30 Pfennige bezahlt hatten, durften wir in unser Ferienparadies. Sofort strömte uns der schon vorher wahrgenommene Freibadgeruch noch viel stärker entgegen.
Was ein erstmaliger Besucher sicher nicht vermuten würde: nach dem Eintreten befand man sich wirklich „oberhalb“ des Freibades. Ging man nur wenige Schritte nach vorn, stand man vor einer hüfthohen Hecke, die die gesamte, wirklich riesige, in einem tiefen Tal liegende Freibadanlage umschloss. In diesem gigantischen, rechteckig angelegten „Tal“ da unten befanden sich die hellblau strahlenden Wasserbecken:
Links das tiefblaue Springerbecken mit einem 10-Meter-Turm. Direkt daneben das Schwimmer-Becken, verbunden durch eine breite, begehbare Mauer mit Startblöcken obenauf und offenen Fenstern unter Wasser, durch die man von einem zum anderen Becken tauchen konnte.
Das Wasser darin war immer ordentlich kälter als in allen übrigen Becken des Freibades.
Rechts davon durch einen wallartigen Wiesen- und Wegstreifen getrennt befand sich das „Allgemeine“ Becken, das von Schwimmern und Nichtschwimmern am häufigsten aufgesucht wurde. Die Wassertiefe fiel von Kniehöhe bis zu 1,80 m ab. Ein dickes Seil trennte den Nichtschwimmerbereich vom tieferen Schwimmerteil.
Die Becken waren von einem umlaufenden wassergefüllten Fußbecken mit Brausen umgeben.
Ein beliebter Spaß – zum Äger der Bademeister – war es immer, zu zweit nebeneinander durch das umlaufende schmuddelige Fußbecken zu marschieren, bis sich vor uns eine schöne, immer höher anwachsende Welle aufschob, die dann zu beiden Seiten rollend überschwappte, leider aber auch ins Schwimmbecken selbst. Ein schriller Trillerpfeifton des Bademeisters beendete dann jäh unseren Spaß. Doofer Spielverderber!
Ging man über einen weiteren Wall nach rechts, befand man sich auf einer sehr große Liegewiese mit zwei nebeneinander liegenden Nichtschwimmerbecken, die durch eine niedrige Mauer voneinander getrennt waren: „Pissbecken“ genannt. In jedes dieser Becken führte eine kleine bunte Metallrutschbahn.
Während das Wasser im Schwimmer/Springer- und dem Allgemeinen Becken strahlend blau schimmerte, fand man hier in den „Pissbecken“ nur eine warme, dreckiggrüne Brühe vor. Hiervon einen Schluck in den Mund zu bekommen, war uns eine ekelhafte Vorstellung.
Wieder weiter rechts eine große, nun ansteigende Wiesenfläche, die am obersten Punkt über drei Treppenstufen auf die Spielplatzwiese führte, die, wie alles hier, ebenfalls richtig große Ausmaße hatte und ringsum von einem Wäldchen umgeben war, in dem sich viele ein schattiges oder die Liebespärchen ein lauschiges Plätzchen suchten.
In dem Wäldchen zu rechten, also zur Straßenseite hin, lagerten einige Jahre lang „Zigeuner“ in richtigen Holzwohnwagen, wie man sie von alten Zirkusbildern her kennt. Sie waren über das gesamte Wäldchen verteilt. Viele „Zigurras“, wie wir sie nannten, waren ebenfalls im Freibad zu sehen, zahlten aber keinen Eintritt: sie hatten sich, ohne Scheu und für jeden sichtbar, einen „eigenen Eingang“ in den Zaun geschnitten. Krach wollte „mit denen“ keiner haben. Also wurde es wohl geduldet. Nur hieß es immer, dass man besonders auf seine Klamotten aufpassen sollte…
Es lohnte sich aber, noch ein kleines Stück weiterzugehen, denn: hatte man auch diesen Spielwiesenteil durchquert, öffnete sich vor einem die tolle heiße „SANDWÜSTE“!
Die Sandwüste war eine riesengroße, nur aus feinem, hellem Sand bestehende Freifläche. Man musste schon gut Schmerzen aushalten können oder eine dicke Hornhaut unter den Fußsohlen haben, wenn man bei heißem Sommerwetter die Sandwüste barfuss durchqueren wollte.
Wir machten uns gern den Jux, uns zuerst im Pissbecken nass zu machen, schnell zur Sandwüste zu rennen, um uns dann in dem heißen Sand zu suhlen. So herrlich paniert rannten wir dann mit Gejohle wieder zum Pissbecken, um uns hier vom Sand zu befreien. Diese Unsitte trug sicherlich dazu bei, dass das Pissbeckenwasser nie eine Chance hatte, mal richtig sauber zu werden.
Oberhalb zwischen dem Allgemeinen und des Pissbeckens befand sich eine schöne breite Terrasse mit Tischen und Stühlen und einem beflaggten Masten mit einer großen Uhr obenauf, die weithin sichtbar war. Der zurückliegende Kiosk wurde ohne Unterbrechung von Massen belagert, weil es hier für den, der Geld hatte, alles gab: Würstchen, Eis, Pommes, Getränke, Sonnenöl, Kämme, Wasserspielzeug, Zeitschriften….
Rechts überdacht war separat eine Kuchentheke aufgebaut.
Wir haben spitzbekommen, dass man hier nach 18 Uhr an der Kuchentheke nach Kuchenkrümeln fragen kann. Für 20 Pfennige bekamen wir dann eine richtige Gebäcktüte voll mit leckeren, sattmachenden Streuselkrümeln, und manchmal war sogar ein ganzes Hefeteilchen mit dabei, weil es nur zerbrochen oder etwas verdötscht war und nicht mehr verkauft werden konnte. Jedenfalls war das leckerer als die mitgebrachten toten Kniften, bei denen die Rama stiften ging und sich die Wurstscheiben von der Wärme dröge verbogen.
Freibad Grimberg war bei schönstem Sommerwetter jeden Tag proppevoll. Die Decken lagen dann wirklich „dicht an dicht“. Prima war es auch, wenn in der Nachbarschaft jemand lag, der ein Kofferradio oder sogar einen dieser neuen tragbaren Plattenspieler dabei hatte, bei denen man die Schallplatte nur in einen seitlichen Schlitz einschieben musste. Dann hörten wir die neuesten Schlager und hatten Spaß. Manche brachten auch Gitarren mit und unterhielten sich und alle umliegenden Leute mit fetziger Musik.
Jeden Tag ins Freibad zu wollen, kostete ja auch Geld. Wenn ich Glück hatte, durfte ich bei den Eltern von Klaus und Wolfgang in ihrem schönen gelben Borgward Isabella mitfahren, wenn sie hingebracht wurden, ansonsten war Laufen angesagt, denn die Fahrt mit der Straßenbahn kostete 20 Pfennige und endete ja schon am Erler Forsthaus, wo noch ein gutes Stück Fußweg vor mir lag. Ich nutzte daher oft die Möglichkeit, mir im Freibad Grimberg eine Freikarte zu verdienen.
Das ging dann so: man meldete sich am frühen Nachmittag bei einem der Bademeister, und fragte, ob man abends Müll aufsammeln und Papierkörbe leeren dürfte. Denn hierfür gab es dann als Lohn eine Freikarte. Das Freibad schloss um 19 Uhr. Jeder Papiersammler bekam einen Bereich zugeteilt, der piccobello und frei von Müll sein musste. Das wurde dann auch von den Bademeistern geprüft. War er dann zufrieden, erhielt man seine Freikarte.
Der Nachteil allerdings war, dass man dann den langen Weg nach Hause zu Fuß und alleine machen musste, weil die anderen ja alle schon weg waren. Egal.
Dafür hatte man aber den nächsten Ferientag im Freibad Grimberg „für umsonst“ gehabt.
Und dat war et doch wert, oder?
Verdelli, wat is dat lange her.
Wie sagt man?
„Wenn die Haare weiß werden, werden die Erinnerungen grün.“
Isso!
Bissi Tage!
Und mit echtet Klor war datt, nich son Naturgedöns wie se et in Styrum fahrn. Datt war früher auch lekka.
Dat in Styrum is mit mit viel zu viel Natur🍃🐜🐝🪲
Wunderschöne Erinnerung, danke dafür
ja, so war dat!
Yo, selten so eine detaillierte Liebeserklärung an ein Freibad gehört. Kompliment, für Text, Bildmaterial und Vertonung, lieber Lo
Gerne gehört. Viele Erinnerungen kamen hoch an das Freibad meiner Jugend. Dort gab es auch das Angebot: Müllsammeln gegen Freikarte. Wir untersuchten dabei immer die Zigarettenpackungen. Bei „Ernte 23“ gab es unter der Zollmarke einen Code, mit dem man was gewinnen konnte. Muss ich gleich mal meinen Jungs erzählen. 😀
Stimmt. Irgend etwas war mit den Schachteln der ERNTE 23….🤔😉
So schöne und interessante Erinnerungen! Das hätte ich auch noch gut für den Artikel rund ums Thema Schwimmen unter der Rubrik „DAMALS” in der Bewohnerzeitung eines Seniorenheims gebrauchen können. Das meine ich jetzt nicht altersdiskriminierend – Ihren Beitrag sehe ich als wichtiges Zeitdokument!
Bei den Bewohner*innen-Befragungen wurde jedenfalls klar, dass es nicht selbstverständlich war, dass das Schwimmen erlernt wurde (so wie heute auch wieder). Und bei den Recherchen bin ich auf den Hamburger Bernhard Markwitz gestoßen, der die Schwimmflügel erfunden hat. https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Hamburger-Bernhard-Markwitz-erfindet-die-Schwimmfluegel,markwitz103.html#:~:text=Markwitz%20hat%20seine%20BEMA%2DSchwimmfl%C3%BCgel,und%20am%20Strand%20damit%20aus.(Nun ja, das war die letzte Ausgabe der Bewohnerzeitschrift, die ich gestaltet habe und zu der ich inhaltlich beigetragen habe..)
Falls Du magst, kannst Du (Sie?) den Beitrag gern (mit Quellenangabe) noch verwenden, allerdings betrifft er ein Freibad in Gelsenkirchen, das es seit 1982 nicht mehr gibt. Liebe Grüße! Lo