1959 Gelsenkirchen-Erle
Schade, dass wir keinen Fernsehapparat haben. Mist.
Die Eltern von Klaus und Wolfgang von nebenan, die haben einen. Hermann und Bernd in der Etage unter uns auch.
Es ist aber immer ein bisschen doof, zu fragen, ob man mal mitgucken darf. Klar, die können ja auch sicher nicht immer alle Freunde mit zu sich nach Hause schleppen. Die Fernseh-Kinderstunde fängt meist nachmittags um fünf Uhr an. Doof ist auch, wenn alle anderen einen spannenden Cowboy-Indianer-Film gesehen haben und man selbst dann nicht: „Boh, hasse gesehn, wie die Indianer mit Karacho hinterher sind, und auf einmal dat Rad vonne Kutsche abgebrochen is?“
Hätte ich auch so gern gesehen, damit ich mitreden kann.
So einen eigenen Fernseher zu haben wäre schon klasse. Meine Mutter sagt, dass so ein Apparat unheimlich teuer ist und wir uns den wirklich nicht leisten können, sie ist froh, dass die Raten für das Radio abbezahlt sind, und ihre Putzstelle in der Gastwirtschaft macht uns auch nicht reicher.
Wird schon einmal ein besonders schöner Film im Fernsehen angekündigt, freue ich mich, wenn wir zu Onkel Otto und Tante Martha zum Hedwigplatz eingeladen sind. Das ist immer mindestens doppelt klasse: Manfred, der Sohn von Onkel Otto und Tante Martha, also mein „Kuseng“, ist nur etwas älter als ich und hat immer tolles Spielzeug. Wir verstehen uns gut und spielen dann entweder draußen auf der Riesenwiese hinter den Häusern am Hedwigplatz, oder eben drinnen.
Wenn dann endlich Fernsehzeit ist, gucken wir die Kinderstunde und wenn die Erwachsenen dann sogar einen Abendfilm gucken wollen, gibt es bei Tante Martha meist noch ganz leckeren Kartoffelsalat mit Würstchen.
Man kann aber auch im ERLER HOF, der Gastwirtschaft nebenan fernsehgucken.
Wenn man in den Erler Hof hinein will, muss man hinter der Eingangstüre erst noch durch einen dicken grünbraunen, nach Zigarettenqualm und Bier stinkenden Vorhang hindurch, der den Wind und die Kälte von draußen abhalten soll.

Rechts der Türe geht dann die große Theke ab. Hier steht auf der Ecke immer so ein Riesenglas, in dem jede Menge gekochter Eier in einer Wasserbrühe liegen. Soleier. Wenn jemand so ein Solei bestellt, wird es von ihm aufgekloppt, halb gepellt, die obere Spitze abgebissen, bis das Eigelb zu sehen ist, und mit Essig, Öl, Salz und Senf aufgefüllt und aufgefuttert. Erwachsene essen manchmal Sachen…
Der Fernseher befindet sich hoch oben links auf einem Brett in der Ecke zwischen der Theke und der Wand mit den Automaten. Viele Nachbarn kommen abends zum Fernsehgucken hierher. Meine Mutter und ich nicht so oft, weil man dann ja auch was bestellen muss. Und als Achtjähriger hat man abends in einer Gastwirtschaft auch sowieso nix verloren.
„Hasse gestern Abend den Film gesehen: ´Soweit die Füße tragen?´ Boah, war dat spannend! Und wie dat weitergeht, da bin ich mal gespannt.“ Mein Freund Bernd ist ganz begeistert. Bernd ist ja auch schon etwas älter als ich und seine Eltern haben ja auch einen Fernseher zu Hause. Überall nur noch ein Thema: „Soweit die Füße tragen“. Gestern abend zeigte man den ersten Teil. Auf der sonst sehr belebten Cranger Straße war dann auch alles wie ausgestorben.
Hätte man Fußball drauf spielen können. War nur keiner da. In der Zeitung steht, dass der Film so lang ist, dass man ihn in sechs Teilen zeigen will: jede Woche einen Teil.
„Nö, erzähl mal!“ Bernd erzählt von dem deutschen Soldaten, der aus einem Gefangenenlager im eisigen Sibirien ausgebrochen ist. „Der heißt Clemens Forell, der da abhauen will. Wat der allet mitmachen muss! Dat glaubsse nich!“ Mist, das hätte ich auch gern geguckt, weil auch in der Schule alle davon sprechen. Das ist richtig doof, wenn man nicht mitreden kann.

Wie kriege ich es hin, dass ich wenigstens die nächsten Folgen gucken kann?
Bei Onkel Otto und Tante Martha geht es nicht. Meine Mutter sagt: „Da ist sicher der halbe Hedwigplatz versammelt. Ich muss arbeiten und alleine kannst Du da nicht hin.“
Wochen später.
„Boh, dat wird immer spannender, wat?“ Gestern war der vorletzte Teil.
Und ich kann mitreden. Ich habe vom zweiten bis zum vorletzten Teil alle gesehen! Und wir sind uns alle einig: „Hömma!!! Soooo wat spannendet!“
„Boah, und hasse die Wölfe gesehen?“ Wir lassen alle Abenteuer unseres Helden Clemens Forell an uns vorüberziehen.
Und dat steht fest: den letzten Teil, den sehe ich auch noch.
Noch eine Woche später.
Dass ich mich am frühen Morgen so richtig auf die Schule freue, hat bestimmt nix mit dem Unterricht zu tun, sondern, dass ich gestern Abend auch den letzten Teil von „Soweit die Füße tragen“ gesehen habe und ganz doll darauf bin, endlich mit meinen Freunden das gestrige, gottseidank gut ausgegangene Fernsehereignis an uns vorbeiziehen lassen.
„Sach ma, Lothar, Ihr habt doch keinen Fernsehapparat. Wo hasse dat eigentlich geguckt?“
„Ratet mal.“
Und ich lüfte mein Geheimnis:
Meine Mutter putzt ja tagsüber immer in einer anderen Gaststätte, und abends bedient sie auch noch. Sie hat gar nicht gemerkt, dass ich abends nicht zu Hause war.
Also schlich ich heimlich um die Ecke in den ERLER HOF, stellte mich dann hinter den schweren grünen, nach Rauch und Bier stinkenden Vorhang, der sich als Windfang zur Innenseite der Pendeltüren zum Lokal befand.
Dort erlebte ich, wenn auch stets von kommenden und gehenden Gästen und ihren störenden Kommentaren unterbrochen, die letzten fünf Folgen von „Soweit die Füße tragen.“
Ich konnte mitreden. Denn ich war dabei.
Stickum hinterm Vorhang im ERLER HOF.

Dieser sechsteilige Fernsehfilm war damals in aller Munde und es war sicher, dass niemand auch nur einen Teil davon verpassen wollte. Zu den Sendezeiten waren die Straßen wirklich leer und am jeweiligen Tag danach gab es überall nur ein Thema: jeder war berührt vom Schicksal des Wehrmachtssoldaten Clemens Forell, der im Herbst 1945 (!) zusammen mit etwa 3.000 anderen deutschen Kriegsgefangenen nach Sibirien verschickt wurde: zu 25 Jahren Zwangsarbeit.
Nur etwa 1900 Männer davon erreichten den kleinen Eisenbahnhaltepunkt Tschita lebend mit dem Zug. Danach folgte ein monatelanger Fußmarsch, der im Herbst 1946 in einem Lager in Ost-Sibirien endete, und den etwa 1200 Männer überlebten, deren Zukunft es nun war, unter schlimmsten Bedingungen in einem Bleibergwerk schuften zu müssen. Unserem Helden Clemens Forell gelang dann mit Hilfe des deutschen Lagerarztes Dr. Stauffer, der wegen einer Krebserkrankung die Idee zur eigenen Flucht nicht mehr ausführen konnte, auszubrechen.
Forells Flucht dauerte mehrere Jahre, führte ihn über 14.000 km meist zu Fuß durch sämtliche Klimazonen. Er trifft auf Menschen, die ihn verstecken, ihm weiterhelfen: Nomaden, polnische Juden.
Abenteuerlich war auch sein Kampf mit der Natur, mit Wölfen, Flüssen, sibirischem Eis. Niemand bemerkte damals, mit welch einfachen Mitteln diese Schwarzweiß-Folgen gedreht wurden: da gab es gemalte Studio-Landschaften aus Holz- oder Stoffkulissen, und für die reißerischen Wolfsszenen wurden Deutsche Schäferhunde genommen. Für uns jedoch war alles so echt, so spannend. Und jeder war gerührt über die glückliche Heimkehr des Clemens Forell zu Frau und Kindern.
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